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Stand: 23. Oktober 2008
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Voltaire's Candide oder 'Unser Optimismus'
 
Voltaire's Candide oder 'Unser Optimismus'

… es war vor allem Martin, der zu dem Schluss kam, dass der Mensch dazu geboren sei, entweder unter der Geißel der Ruhelosigkeit oder in der Lethargie der Langeweile zu leben. Candide war damit nicht einverstanden, aber er stellte auch keine bestimmte Gegenbehauptung auf. Pangloß gab zu, dass er sein Lebtag entsetzlich hatte leiden müssen; aber da er nun einmal behauptet hatte, alles sei aufs beste bestellt, so blieb er eben dabei, auch wenn er selber nicht mehr daran glaubte. Zugegeben, Voltaire’s Candide ist kein sonderlich intellektuell schwieriges Buch. Es ist leicht und einfach zu lesen. Es gibt keine bon mots, keine dunklen, nur Eingeweihten zugänglichen Passagen. Alles ist klar. Jeder Satz verständlich. Als Romanleser ist man, ist jeder sofort enttäuscht. Das Erzählte ist flach in jeglicher Hinsicht. Es wirkt konstruiert und ist es bestimmt. Beides. Wir erfahren im Nachwort vom architektonischen Aufbau der Geschichte. Und warum lesen wir Voltaire’s Candide? Warum beschäftigen wir uns mit Sachen, die weit zurück, viele hundert Jahre alt sind? Gut, Voltaire, ist ein Name. Von Voltaire sollte man was gelesen, nicht bloß gehört haben. Wir besorgen uns darum sein Hauptwerk oder zumindest dasjenige, das am bekanntesten ist. Wir beginnen mit der Lektüre. Wir lesen das Buch „quer“. So was kann man lernen. In einer knappen halben Stunde haben wir das Buch quer durchgelesen. Nun wissen wir, worum es geht. Zusammengefasst bekommen wir das Ganze im Nachwort. Das hat ein Experte verfasst, der in gebildeten Kreisen bedeutend ist. Was der schreibt zusammen mit unserem Eindruck, den wir authentisch, beim selber Lesen bekamen, zusammen mit beidem, können wir Voltaire abhaken. Abhaken von unserer Bücherliste. Jener Liste mit den Autoren, von denen wir meinen, dass diese wichtig und bedeutsam sind, so wichtig und bedeutsam, dass es nicht reicht, einfach bloß so über sie bescheid zu wissen. Wir müssen so ein Buch wie das von Voltaire, diesen Candide selbst durchforsten. Da hilft nichts. Das muss sein. Jeder, der liest, muss Candide von Voltaire gelesen haben. Selbstgelesen. Egal wie. Das ist so, wie wenn wir sagen/schreiben: jeder, der christlich gesinnt ist, muss die Bibel gelesen habe. Man muss nicht Christ sein und man braucht auch kein Leser, kein Anhänger der Aufklärung sein. Man muss lesen gar nicht für bedeutsam erachten. Man kann auf das Lesen müssen auch verzichten, was sag/schreib ich: man kann es sein lassen. Kann statt lesen, was anderes tun. Irgendwas anderes schaffen z.B. in seinem Garten. Das ist ganz im Sinne von Voltaire. Trotzdem. Bücher lesen und Voltaire lesen oder gelesen haben, gehört zusammen. Lesend, Voltaire lesend, erfahren wir, dass wir das Lesen, das Denken und Philosophieren sein lassen sollen. Dass anderes für uns besser ist, dass es besseres gibt. Man darf Voltaire nicht unterschätzen. Voltaire war nicht dumm. Er tut zwar so naiv, oder ist tatsächlich unbegabt fürs Romaneschreiben, so, dass wir in keine Lesestimmung verfallen, verfallen können, wir nicht berauscht sind und die Zeit vergessen, weil’s so spannend ist. Das alles findet nicht statt. Trotzdem. Es gibt offensichtlich dennoch eine zweite Ebene. Eine Art Geheimsprache. Wir lesen den Candide und lesen von nun an weniger bzw. machen und tun dafür anderes. Voltaire ist ein Killer. Ein Killer von Melancholie und möglicher Depression, wie sie Geistmenschen leicht befällt oder befallen kann. Er schafft das. Er schafft das irgendwie. Er schafft das im Verborgenen. Er schafft das zwischen den Zeilen. Da steckt irgendwas drin in Voltaire’s Candide. Irgendein Hauch. Lies Voltaire und dir vergeht die Lust am Lesen. Voltaire ist Medizin. Wer Voltaire liest ist, besser: wird immun. Immun gegenüber jeglichem Schwachsinn, erzählt von wem auch immer. Selbst über die Humanisten kann man nun lachen. Kann man lachen, wenn man Voltaire gelesen hat. Ok, manche schaffen es auch so. Ohne Voltaire. Gewiss. Mit Voltaire, nach Voltaire jedoch wird alles anders. Man wird zum Intellektuellen. Selbst wenn man den Candide nur quer gelesen hat. Man wird zum Freigeist. Zum Selbstdenker. Zum Ich, das einen Halt, das Orientierung in sich, im Denken gefunden hat. Das sich abgrenzt. Von Führung jeglicher Art. Geschafft. Wir gehören dazu. Dank Voltaire. Dank Voltaire lachen wir wieder. Lachen wir mit. Werden wir ein bisschen besser, humaner. Sieh, die Welt ist gut. Sie ist, sie wird es tatsächlich. Du musst, brauchst bloß aufhören. Mit lesen, mit denken, mit philosophieren. Das denken wir von nun an immer wieder. Voltaire gibt hierfür, dass wir es auch tatsächlich packen, tatsächlich was anderes tun, dafür gibt er die nötige Kraft; spätestens, wenn wir den Candide zu Ende gebracht, gelesen haben. Darum sag ich, darum schreib ich: Mit Voltaire, mit, nach der Lektüre von dessen Candide (ich hab jeden Tag nicht mehr als ein, zwei Kapitel geschafft; schaffen müssen) wird alles anders. Besser. So, wie’s am besten ist. Für uns. Uns Intellektuelle.

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Der Text:
Voltaire. Candide oder Der Optimismus
2005 Verlag C. H. Beck oHG dtv, München.
 
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